Selbstverteidigung


Der Rückgang der Gewalt dürfte die bedeutsamste und am wenigsten gewürdigte Entwicklung in der Geschichte unserer Spezies sein.

Steven Pinker (Buch Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit)

Wir leben zum Glück in einer Zeit in der wir im Alltag nur noch sehr wenig mit Gewalt konfrontiert werden. Wir leben in Frieden in Deutschland! Trotzdem kann es im Leben zu unvorhergesehenen Notfallsituationen kommen in denen körperliche Fitness, blitzschnelle Entscheidungen und plötzliche zielgerichtete Reaktionen nötig sind.

In unserem Wing Tsun Kung Fu Training beschäftigen wir uns auch mit der Anwendung im Falle von Selbstverteidigung im realen Alltag an. In Rollenspielen und ausführlichen praktischen Übungen, sowie der Auseinandersetzung mit der rechtlichen Situation in Deutschland möchten wir vermitteln was Selbstverteidigung bedeutet und wie bzw. wann sie angewendet werden darf.

Selbstverteidigung findet unter Berücksichtigung des Grundgesetzes und des Notwehrrechts statt. Wing Tsun Kung Fu kann im Alltag zur Selbstverteidigung benutzt werden. Da wir während des Trainings sehr effiziente Methoden entwickeln und auch die physische Konstitution trainieren, ist es umso wichtiger sich mit der rechtsmäßigen und verhältnismäßigen Anwendbarkeit im Rahmen der Selbstverteidigung auseinanderzusetzen.


Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Artikel 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. […]


Bei der Anwendung von Wing Tsun Kung Fu zur Selbstverteidigung muss unbedingt darauf geachtet werden, dass die Voraussetzungen des Notwehrrechts erfüllt sind.

Sowohl das Strafgesetzbuch als auch das Bürgerliche Gesetzbuch beinhalten Vorschriften zu Notwehr.


Bürgerliches Gesetzbuch

§ 227 Notwehr
(1) Eine durch Notwehr gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich.
(2) Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.


Strafgesetzbuch

§ 32 Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.


Was ist ein Angriff?


Ein Angriff ist jede durch eine menschliche Handlung drohende Verletzung rechtlich geschützter individueller Güter oder Interessen (Rechtsgut).

Geschützte Rechtsgüter sind z.B. das Leben, die Gesundheit (körperliche Unversehrtheit), die Freiheit, das Eigentum, die Menschenwürde, sexuelle Selbstbestimmung (§ 823 Abs. 1 BGB und Art. 1 bis 19 GG).

Es muss sich um individuelle Rechtsgüter handeln, die dem Interesse einzelner Individuen dienen. Im Gegensatz dazu kann Notwehr nicht angewendet werden bei Angriffen auf kollektive Rechtsgüter, die der Allgemeinheit dienen, wie z.B. die Sicherheit des Verkehrs.

Eine durch eine andere Person hervorgerufene Körperverletzung durch einen Schlag oder einen Tritt stellt somit eine Verletzung des individuellen Rechtsguts Gesundheit und somit einen Angriff dar.


Was bedeutet gegenwärtig?

Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert. Es liegt keine Gegenwärtigkeit vor, wenn der Angriff bereits vollständig abgeschlossen oder fehlgeschlagen ist oder wenn es sich lediglich um eine Dauergefahr handelt.

Um Notwehr anwenden zu können, reicht es also aus, dass ein Schlag oder Tritt unmittelbar bevorsteht, sich der Angreifer also in erkennbarer Absicht nähert oder positioniert. Bei einer am Boden liegenden nicht mehr attackierenden Person hingegen kann nicht mehr von einer Gegenwärtigkeit ausgegangen werden.


Wann ist ein Angriff rechtswidrig?

Ein Angriff ist rechtswidrig, wenn der Angegriffene ihn nicht dulden muss, also wenn er objektiv im Widerspruch zur Rechtsordnung steht.

Gegenbeispiel für einen rechtmäßigen Angriff ist die Festnahme durch die Polizei. Wer sich dagegen verteidigt, handelt nicht im Rahmen der Selbstverteidigung.

Wehrt der Wing Tsun Kämpfer durch gezielte Schläge einen Angreifer ab, so handelt er (solange die Voraussetzungen des § 32 StGB erfüllt sind) trotz der von Ihm begangenen Körperverletzung nicht rechtswidrig, da das Recht Notwehr erlaubt.

Weiterhin muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Verhältnismäßig ist eine Handlung, wenn sie für einen legitimen Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist.


Welche Verteidigung ist geeignet?

Geeignet ist die Verteidigungshandlung, wenn der damit verfolgte legitime Zweck (z.B. Recht auf körperliche Unversehrtheit) überhaupt erreicht oder zumindest gefördert werden kann.

Bei einem Angreifer der physisch deutlich überlegen ist, sind Schläge auf Brust, Bauch und Kopf ggf. nicht geeignet, um eine endgültige Beendigung des Angriffes herbeizuführen. Daher werden im Wing Tsun Kung Fu auch Techniken trainiert, die gegen empfindliche Körperregionen gerichtet sind.

Gegen mehrere Personen mit Waffen (z.B. Messer) ist im Einzelfall der waffenlose Verteidiger berechtigt alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um sein eigenes Leben zu schützen.


Welche Verteidigung ist erforderlich?

Erforderlich ist die Verteidigungshandlung, wenn es keine milderen Mittel gibt, denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit zu erzielen. Der Verteidiger muss dabei aber nicht das Risiko eingehen, dass die Abwehr nicht ausreicht, den Angriff zu beenden. Unter mehreren gleich wirksamen Möglichkeiten ist diejenige zu wählen, die den geringsten Schaden anrichtet.


Welche Verteidigung ist angemessen?

Angemessen ist die Verteidigungshandlung, wenn die Zweck-Mittel Relation nicht außer Verhältnis steht. Das heißt umgangssprachlich: “nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen!“

Techniken gegen empfindliche Körperregionen bei einem Angreifer der deutlich unterlegen ist anzuwenden, die möglicherweise sogar zu bleibenden Schäden führen können, wäre unverhältnismäßig.


Einschränkungen des Notwehrrechts

Die Rechtsprechung kennt weitere Einschränkungen des Notwehrrechts. Demnach muss eine Verteidigung auch geboten sein. Notwehr liegt hier nur eingeschränkt vor:

  • bei einem Angriff einer alkoholisierten Person,
  • bei der Provokation des Angriffs,
  • bei selbstverschuldet herbeigeführtem Angriff (fahrlässige Provokation),
  • bei einem Angriff eines erkennbar Irrenden,
  • oder bei schuldlos handelnden Angreifern (psychisch krank).

Nothilfe

Notwehr für einen anderen. Diese liegt vor, wenn das geschützte Rechtsgut nicht einem selbst, sondern einem Dritten zusteht. Das ist z.B. der Fall, wenn ein Begleiter angegriffen wird und man sich dem Angreifer entgegenstellt, um den Begleiter zu schützen. Hier gelten ansonsten die gleichen Kriterien wie bei der Notwehr.